Natürlich haben viele Linke zum Islamismus geschwiegen

Am 16. Oktober 2020 enthauptete ein Islamist in einem Pariser Vorort den Lehrer Samuel Paty auf offener Straße, nachdem dieser in seinem Unterricht die bekannten Mohammed-Karikaturen behandelt hatte. Inzwischen zählt Frankreich in den letzten Jahren mehr als 250 Opfer islamistischer Terroranschläge. Der brutale Mord an Paty hat auch in Deutschland ein großes Medienecho erzeugt. Neu ist hingegen, dass sich auch vermehrt Politiker*innen aus dem linken und sozialdemokratischen Spektrum zum Islamismus äußern und öffentlich anmahnen, dass Linke sich endlich intensiver mit dem Thema auseinandersetzen sollten.

Medial wurden dabei besonders die Beiträge Kevin Kühnerts und Sascha Lobos diskutiert als auch kritisiert. So schrieb Kühnert, dass »die politische Linke ihr unangenehm auffälliges Schweigen beenden solle« und sich im Falle des Islamismus »endlich gründlich mit dieser Ideologie als ihrem wohl blindesten Fleck beschäftigen müsse«.

„Prinzipienfragen sind unter Experten unbeliebt“

Ein überfälliges Statement, das einige progressive Linke schon seit Jahren einfordern, wobei sie eben für diese Forderung durch eine Vielzahl von regressiven Kräften im linken Spektrum als Rassist*innen diffamiert wurden.

Nun hätte man erwarten können, dass vor allem antiimperialistische Linke über Kühnert verbal herfallen, ihn des Rassismus beschuldigen und die Gefahr des Islamismus herunterspielen. Dieses Mal zeichnete sich in Teilen jedoch ein anderes Bild ab. Besucht man derzeit linke Gruppen und Foren, so wird dort behauptet, dass es so gut wie keine Linken geben würde, die jemals zum Islamismus geschwiegen hätten, vielmehr noch würde man mit dieser Behauptung rechte Narrative bedienen. Linke Journalisten wie Ralf Fischer, der für die Jungle World über Islamismus berichtet, reiben sich da verwundert die Augen. Natürlich kommen bedeutende Beiträge zum Islamismus aus Teilen der Linken, dabei aber zu behaupten, dass diese Aufklärung ein Bewusstsein im linken Mainstream bewirkt hätte, ist kaum haltbar. Fortschritte hat es durchaus beim kritischen Umgang mit den Grauen Wölfen gegeben, aber diese definieren sich in erster Linie als nationalistisch-faschistische Bewegung.

Insbesondere der parlamentarische Arm der sozialistischen Bewegung, Die Linke, hat in einflussreichen Teilen über Jahre den legalistischen Islamismus in der Bundesrepublik verharmlost oder sogar den Schulterschluss mit reaktionären Aktivist*innen gesucht.

Als Antwort auf Kühnerts Beitrag meldete sich eine junge Frau aus Rojava, die dort antifaschistische Organisationen unterstützt. Dabei wird angeführt, dass es vor allem Linke aus Europa waren, die dem kurdischen Widerstand zur Hilfe geeilt seien. Und damit hat sie Recht. Weiter gibt sie an, dass Kühnerts SPD eine der Kräfte in Deutschland sei, die sich seit Jahren verantwortlich für die Absegnung von Waffendeals mit dem AKP-Regime zeigt. Auch hier liegt sie richtig. Allerdings fragt man sich, warum es solche Videos nicht in Bezug auf das Spitzenpersonal der Linkspartei gibt?

Zur Erinnerung: im Oktober 2014 forderte die religionspolitische Sprecherin der Linken, Christine Buchholz, das »US-Bombardement« auf IS-Stellungen rund um Kobane zu beenden, das sich zu dieser Zeit in blutigen Kämpfen mit den Islamisten befand:

»Verzweifelt kämpfen die Kurden in Kobane gegen die Terrormiliz IS. Die Linken-Abgeordnete Christine Buchholz jedoch protestiert gegen das „US-Bombardement“. Die Kämpfer in Kobane haben aber offenbar eine gänzlich andere Meinung zu den von Buchholz kritisierten Luftangriffen unter Führung des US-Militärs – ausdrücklich fordern sie mehr Luftschläge. Im Kampf gegen die immer weiter vorrückende Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) sind sie dringend auf Unterstützung angewiesen.«

Heute wissen wir, dass Kobane ohne die Unterstützung der amerikanischen Luftschläge gefallen wäre, was zu einem Massenmord an kurdischen Männern und zur Versklavung von Frauen und Kindern geführt hätte. Die Kräfte, denen die Frau im Video heute in Rojava hilft, würden somit de facto in großen Teilen nicht mehr existieren, hätte auch nur ein Verantwortlicher auf Christine Buchholz gehört.

Hat es zu diesen skandalösen Äußerungen jemals eine gleichwertige Video-Aktion gegeben? Das Schweigen war auch hier in linken Kreisen, bis auf wenige Ausnahmen, ohrenbetäubend.

Bereits 2012 besuchte Buchholz die »Islamische Gemeinschaft in Deutschland (IGD)«, die sich inzwischen »Deutsche Muslimische Gemeinschaft (DMG)« nennt und als Deutschlandvertretung der islamistischen Muslimbruderschaft fungieren soll. Dort überbrachte sie »herzliche Grüße der Partei« und tadelte eine damalige Bezirksbürgermeisterin von Bonn vor laufenden Kameras für ihr Fernbleiben.

Wie beschreiben liberale Muslim*innen die IGD/DMG?

»Bereits seit ihrer Gründung steht die IGD unter bestimmender Einflussnahme der Muslimbruderschaft. Ihre Gründung im Jahre 1960 ging von Said Ramadan aus, dem prominenten Muslimbruder und Schwiegersohn des MB-Begründers Hasan al-Banna. Die IGD gilt als wichtiger Akteur im europäischen Muslimbruderschafts-Netzwerk. Sie ist Gründungsmitglied der „Föderation der Islamischen Organisationen in Europa“ (FIOE) mit Sitz in Brüssel. Bei der FIOE handelt es sich um den Dachverband aller Muslimbruderschafts-nahen Organisationen in Europa.« Aladdin Sarhan (Islamwissenschaftler)

Noch skandalöser wurde es, als marx21 vier Wochen nach dem gescheiterten Putsch in der Türkei einen Beitrag von Buchholz veröffentlichte, in dem Kritik am islamischen Verband DITIB in einen Kontext mit der angeblichen Hilfe für »anti-türkische, islamfeindliche Rechte« gesetzt wurde. Viel mehr noch lies Buchholz verlauten:

»Die Mehrheit der türkischen Staatsbürger in Deutschland unterstützt Erdogan in Umfragen. Sie haben auch das Recht darauf, sich für die AKP in Deutschland politisch zu betätigen.«

Wohlgemerkt sagte sie dies, nachdem DITIB in diverse Islamismus– und Antisemitismus-Skandale verwickelt war und die AKP, die DITIB über die türkische Religionsbehörde kontrolliert, offen islamistische Meuchelmörder aus Syrien mit Waffen versorgte. Nun ist es formal richtig, dass Menschen für nicht verbotene Organisationen aktiv sein dürfen, nur würde man sich richtigerweise überrascht zeigen, hätte Buchholz dies über deutsche Rechte gesagt. Ohne zu übertreiben kann ihr Beitrag als eine offene Ohrfeige für kurdische als auch türkische Linke verstanden werden. Kritik wie an Kühnert vermisst man daran vergeblich. Stattdessen hat sich Buchholz mit großem Rückhalt der linken Basis, bei wenigen Gegenstimmen, bis heute sicher im Amt der religionspolitischen Sprecherin gehalten.

Die Ausfälle einer Christine Buchholz im Bereich des Islamismus wurden von der Mehrheit der Linken weder thematisiert noch kritisiert.

Derartige Skandale gehören seit Jahren zur Tagesordnung. Natürlich lehnen Linke Terrororganisationen wie den IS ab und stehen an der Seite linker Kräfte in Nahost. Dies hat Kevin Kühnert aber nicht kritisiert. Er hat vielmehr aufgezeigt, dass es bedeutenden Teilen der Linken nach wie vor an einem wirklichen Bewusstsein für das weite Feld islamistischer Strukturen fehlt und dass wenig dafür getan wird, das auf absehbare Zeit zu ändern. Diese Strukturen sind in der Bundesrepublik zumeist legalistisch-islamistisch organisiert und verzichten auf physische Gewalt. Sowohl die Muslimbruderschaft, genauso wie Teile ihrer türkischen Schwester-Organisation, die Millî GörüşBewegung, sind diesem Milieu zuzurechnen. Da auch die AKP als Abspaltung der Millî Görüş-Bewegung in der Tradition des legalistischen Islamismus steht, bleibt es nicht verwunderlich, dass islamische Verbände wie DITIB oder ATIB, die über die DIYANET mit der AKP verknüpft sind, heute Teil der Kritik sind.

Wer diese Zusammenhänge öffentlich machte, wurde über Jahre von einflussreichen Stimmen der Linken diffamiert, während zu viele Genoss*innen an der Basis das Problem kleinredeten.

Sowohl die IGD/DMG als auch die ATIB sind Gründungsmitglieder des Zentralrat der Muslime (ZMD), wobei die Mitgliedschaft der DMG seit Ende 2019 ruht. Als der Vorsitzende des Zentralrats, Aiman Mazyek, 2016 als Ehrengast ein Grußwort auf dem Bundesparteitag der Linken sprach, war die IGD noch aktives Mitglied. Genauso wie 2017, als Mazyek neben Buchholz auf dem marx21-Kongress MARX IS MUSS referierte und sich 2018 sogar auf der Bühne der #Unteilbar-Demo vor tausenden Menschen als Kämpfer für Freiheit und Toleranz verkaufen durfte. Kritik wurde vereinzelt auch von Linken geäußert, die überwiegende Mehrheit marschierte Schulter an Schulter mit einem Mann, der nicht nur legalistische Islamist*innen in seinem Verband duldete, sondern mit der ATIB auch eine Organisation aus dem Milieu der Graue Wölfe.

Wo war hier die Kritik der linken Basis am Islamismus?

Der MARX IS MUSS-Kongress ist seit Jahren dafür bekannt, reaktionären Aktivist*innen eine Bühne zu bieten. Eine dieser Aktivist*innen ist Betül Ulusoy.

Wenige Monate bevor sie 2014 an der Seite von Christine Buchholz auf dem Kongress referierte, postete sie von sich ein Bild auf einer Veranstaltung Erdogans in Deutschland. Die Atmosphäre betitelte sie begeistert als »anlatılmaz« (unbeschreiblich, nicht in Worte zu fassen). Zwei Jahre später geriet Ulusoy in die Kritik, weil sie nach dem gescheiterten Putsch in der Türkei davon fantasierte, dass nun »mit Gottes Segen Dreck gesäubert werden könne«. Ulusoy trat bis dahin regelmäßig auf Veranstaltungen der Linken auf.

Wo war hier die Kritik der linken Basis am legalistischen Islamismus der AKP und diverser Vorfeld-Ideologien im reaktionär-muslimischen Milieu?

Der MARX IS MUSS-Kongress ist keine Veranstaltung, die außer Buchholz keine hochkarätigen Politiker*innen der Linkspartei vorzuweisen hat. So haben sich dort über Jahre Niema Movassat, Bernd Riexinger oder Janine Wissler das Mikrofon geteilt. Wissler, die selber Mitglied im Netzwerk marx21 war, bemüht sich nun darum, den Bundesvorstand der Partei zu übernehmen. Hat Wissler sich jemals zum legalistischen Islamismus geäußert? Hat sie sich jemals zu den Gästen geäußert, die auf dem MARX IS MUSS-Kongress eine Bühne geboten bekommen?

Wo war hier die Kritik der linken Basis am Islamismus?

Ich könnte zuletzt noch umfangreich zu den Zuständen der Linken in NRW berichten, wo ein Jules El-Khatib sich mit dem ehemaligen SETA-Aktivisten Tarek Bae ablichten lässt. Dem nicht etwa eine breite Welle der Kritik entgegenschlägt, sondern der nun zum zweiten Mal als stellv. Landessprecher in NRW gewählt wurde. Ebenso könnte ich nach den Mahnwachen und den tausenden Demonstrant*innen linker Bewegungen nach dem islamistischen Anschlag auf den Breitscheidplatz fragen. Ich tue dies aber nicht, da wir alle wissen, dass weite Teile der Linken seit Jahren zum Islamismus geschwiegen oder diesen relativiert haben. Die vereinzelten und mutigen Stimmen innerhalb der Linken, die nachdrücklich zum Islamismus aufklären, verdienen meinen Respekt und ich verneige mich vor den stabilen Genoss*innen, die sich in dem Moment dem IS entgegenstellten, als Bürgerliche lieber »Hufeisen warfen« statt anzuerkennen, dass es Teile der Linken waren, die der islamistischen Barbarei Widerstand leisteten. Gotina rast sondê naxwaze!

Mit antifaschistischen Grüßen

Schmalle

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